Reisebericht Oliver
Mein Name ist Oliver, ich bin 43 Jahre alt und seit gut 5 Jahren bin ich mit einem Jugendlichen von ensemble im Rahmen eines Reiseprojektes unterwegs.
Zur sozialen Arbeit bin ich erst über Umwege gekommen und zu diesem Reiseprojekt über noch mehr Zufälle.
Nach der Schule habe ich eine Ausbildung bei der Bank angefangen, aber sehr schnell gemerkt, dass das nicht das Richtige für mich ist. Also habe ich eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner absolviert.
Danach musste ich 13 Monate zum Zivildienst, da ich den Wehrdienst verweigert habe. Hier merkte ich zum ersten Mal, dass mir die Arbeit mit Menschen gefällt. Also habe ich im Anschluss einige Zeit als Helfer in der Betreuung und Pflege gearbeitet. Aus finanziellen Gründen wechselte ich dann wieder zum Gärtner, bis ich mich mit fast 30 Jahren doch zu einer pädagogischen Ausbildung entscheiden konnte.
Als Arbeitserzieher habe ich bei unterschiedlichen Trägern in Hamburg gearbeitet, aber so richtig gefallen hat mir nichts davon.
Es war mir alles zu wenig Klientenzentriert und zu viele, teilweise sinnlose, Strukturen.
Also habe ich einige Fortbildungen besucht (Erlebnispädagogik, Interkulturelle Kommunikation, Anti-Bias,...) und mich damit selbständig gemacht.
Nun ist die selbständige Arbeit in diesem Bereich nicht immer leicht, so dass ich zu viel mit Akquise und Büroarbeit beschäftigt war und nicht wirklich frei in der Auftragsannahme war.
Also kam mir gelegen, dass ich auf ensemble gestoßen bin, die einen Betreuer für eine mehrwöchige Wanderung gesucht haben. Ich lernte zuerst die Geschäftsführung, dann einen Koordinator und kurze Zeit später den entsprechenden Jugendlichen kennen.
Anschließend sollte es zügig losgehen und so begann die Reise.
Die erste Etappe der Reise (von Luxemburg bis Perpignan) hatte der Jugendliche sich ausgesucht, da er dort Verwandte besuchen wollte.
Bei diesen ersten Wochen hat sich eine gute Beziehung zum Jugendlichen entwickelt, so dass die Projektzeit verlängert und weiter ausgebaut wurde. Mittlerweile sind daraus 5 Jahre geworden.
Das Unterwegs sein war besonders gut für diesen Jugendlichen, da er sich oft langweilt und ständig Aktivitäten braucht, damit er den Tag als erfolgreich erlebt. Zusätzlich benötigt er eine feste, vertrauenswürdige Bezugsperson um sich auch entspannen zu können.
Da war das Leben im Wohnmobil ideal. Wir leben auf sehr engen Raum zusammen und waren von Anfang an aufeinander angewiesen und vertrauten uns. Gemeinsame Abenteuer, Unternehmungen und neue Hobbies stärkten dieses Gemeinschaftsgefühl ungemein. Außerdem konnten wir selbst entscheiden, welche Übernachtungsplätze wir ansteuern und wie lange wir dortblieben. So wechselten Phasen von viel reisen und wenig Kontakt zu anderen Menschen, bis hin zu mehreren Monaten auf demselben Campingplatz stehen und engeren Kontakt zu vielen Dauercampern zu haben.
Nebenbei lief das Lernen. An Schule war zu Beginn des Projektes nicht zu denken.
Das Planen von Routen, Recherchieren von Stellplätzen, Rechnen beim Einkaufen oder Tanken, und Planen bzw. Zubereiten von Mahlzeiten wurden so ganz selbstverständlich gemacht, dass dabei an Schule gar nicht gedacht wurde. Danach konnte mit einer Fernschule begonnen werden, die mit Einzelbetreuung unter der Sonne auch mehr Spaß gemacht hat.
Das Positive an der Arbeit ist, dass ich frei in meinen Entscheidungen bin. In Absprache mit dem Jugendlichen und dem Koordinator entscheide ich, was wir machen und welche Ziele wir damit verfolgen. Auch wenn das Ziel mal zwischendurch nicht immer für alle außenstehenden klar erkennbar ist oder nicht gradlinig erreicht wird, habe ich immer einen Koordinator an meiner Seite, der stets ansprechbar ist und neue Ideen einbringt oder meine Vorschläge in die Planungen einbaut. Nicht unwichtig ist, dass ich finanziell abgesichert bin und mich so wirklich um die eigentliche Arbeit kümmern kann.
Das Negative ist, dass niemand versteht, was ich wirklich mache. Entweder höre ich, dass man doch nicht 24 Std an 7 Tagen die Woche über Jahre ununterbrochen arbeiten kann. Andere wundern sich, dass ich in Spanien im Campingurlaub bin und dafür Gehalt bekomme.
Für mich ist es irgendwie beides. Ich habe die Möglichkeit meinen Hobbys und Träumen nachzugehen (im Wohnmobil durch Europa reisen, wandern, tauchen, paddeln,...) und dabei übernehme ich einen pädagogischen Erziehungsauftrag, der ebenfalls kein Arbeitsende kennt.
Für diese Arbeit bekomme ich von dem Jugendlichen unmittelbares Feedback und ich erlebe die Entwicklungsschritte und Förderziele direkt.
Die Reise
Alles Begann im Januar 2016 mit einer Wanderung von Lyon immer an der Rhone entlang in den Süden und dann weiter nach Perpignan.
So war jedenfalls der Plan,...
Schon damals zeigte sich, wie individuell Individualpädagogik ist und der gut ausgearbeitete Plan wurde gleich am ersten Tag vom Jugendlichen verworfen.
Nach drei Tagen „Neuorientierung“ und „gegenseitigem Kennenlernen“ an und um den Bahnhof von Nancy haben wir uns trotzdem zusammengefunden und sind mit dem Zug in den Süden von Frankreich gefahren.
Bereits hier war ich froh, dass ich ein sehr gutes Verhältnis zu meinem Koordinator habe und er unterstützte mich bei der Planung neuer Ideen, sowie beim Durchhalten in ungewissen Situationen und reflektierte gleichzeitig, soweit möglich, mit dem Jugendlichen.
Die erste Etappe der Reise wurde in mehrere Abschnitte aufgeteilt und das Wandern wurde etwas weniger als geplant. Trotzdem konnten wir uns beide gut zusammenfinden und eine Basis für die weitere Zeit schaffen.
Aus dieser ersten Reise entwickelte sich, dass wir beide uns eine längerfristige Betreuung vorstellen konnten. Also sind wir im Februar 2016, nach ca. 3 Wochen in Frankreich, gemeinsam nach Hamburg gefahren um in meiner Wohnung zu leben und weitere Pläne zu machen.
Wir konnten ein Wohnmobil kaufen und somit uns beiden den Traum vom Reisen erfüllen.
Die erste Reise führte uns über Norddeutschland in Richtung Westen, mit dem Ziel Amsterdam. Dabei konnten wir das Leben im Wohnmobil testen und uns weiterhin vorstellen, gemeinsam lange Zeit in diesem engen Raum zu verbringen.
Im Juni 2016 reisten wir wieder nach Frankreich, um von Montpellier die Mittelmeerküste entlang zu fahren. Diese Tour ging dann weiter durch Spanien, an der Mittelmeerküste entlang bis Gibraltar. Wir sind immer nur kurze Strecken gefahren und hatten so genug Zeit für Erkundungstouren und Strandtage. Insgesamt waren wir bis September unterwegs und sind nach diesen warmen, schönen Sommermonaten zurück ins herbstliche Hamburg gekommen.
Wir hielten uns noch eine Weile in Norddeutschland auf, aber das Wetter war nicht wirklich einladend, so dass wir im Oktober erneut das Wohnmobil packten und uns auf den Weg zurück nach Spanien machten.
Wieder ging es bis Malaga, an der Küste entlang und zurück bis in die Nähe von Alicante. Dort absolvierten wir neben den sonst üblichen Freizeitaktivitäten einen Schnuppertauchgang und danach unseren Tauchschein. Ein schönes neues Hobby, dass uns die nächsten Jahre bis heute begleitet und immer wieder begeistert.
Im Dezember wurde es uns dann auch in Spanien zu ungemütlich und vor allem war das Wasser zu kalt zum Tauchen. Also wieder zurück in die Hamburger Homebase, um neue Pläne zu schmieden. Es wurden Flüge gebucht und Ende Januar 2017 ging es dann los nach Tacoronte (Teneriffa).
Wir hatten Zeit, die schönsten Ecken der Insel kennenzulernen. Dabei waren wir viel wandern und tauchen und lernten unglaublich nette Menschen kennen. Seitdem ist Teneriffa unsere Lieblingsinsel und wir verbrachten noch weitere Wintermonate dort.
Ende April sind wir zurück nach Hamburg geflogen und nach einem kurzen Zwischenstopp dort wieder zum Wohnmobil in Spanien. So ging es im Wesentlichen die Zeit über weiter. Alicante war unser erstes Anlaufziel, Hamburg die Homebase und Teneriffa der Wintersitz. Zusätzliche Reisen waren ansonsten eher kurz und im Bereich Deutschland, Belgien oder Luxemburg.
Bei den ganzen Reisen wurde natürlich das Lernen nicht vernachlässigt. Neben den alltäglichen Aufgaben wie Einkaufen, Kochen, Wohnmobil reisefertig machen, dem Kennenlernen anderer Kulturen, dem Unterricht für mehrere Tauchscheine und dem praktischen Anwenden von Fremdsprachen (neben Französisch und Spanisch wurde auf den Campingplätzen viel Englisch gesprochen) war eine Fernschule ebenfalls „täglicher“ Begleiter.
Das Ergebnis war super und so wurde die Schule im Dezember 2018 mit dem Hauptschulabschluss Hamburg erfolgreich abgeschlossen.
Als Belohnung für das ganze Lernen (was für uns beide nicht immer leicht war!) und den geschafften Schulabschluss wurde eine weitere Reise geplant.
Dieses Mal in eine weiter entfernte Destination und mit dem Airbus A-380 (ein ganz spezieller Wunsch des Jugendlichen).
Im März 2019 landeten wir in Colombo auf Sri Lanka. Dort verbrachten wir gut 2 Monate und sind an der Westküste, im Süden, im Hochland und zum Abschluss an der Ostküste gewesen. Verbunden wurde dies mit spannenden Wandertouren, Fahrten mit dem Tuk Tuk oder dem Roller durch den etwas anderen Verkehr und Übernachtungen in Zelten und Palmenhütten.
Durch die Übernachtungen in privaten Gästezimmern haben wir sehr viel der landestypischen Kultur kennengelernt und uns meistens weit weg von den üblichen Touristenpfaden gehalten. Fischcurry zum Frühstück gehörte hier ebenso zu den neuen Erfahrungen, wie das Wandern durch Teeplantagen, Wildwasser Rafting, Safarietouren und das Tauchen im indischen Ozean, inklusive Riffhaien.
Die zwei Monate vergingen wie im Flug und im Mai ging es zurück nach Hamburg und in das irgendwie „strenge, ordentliche und organisierte“ europäische Leben, was auch wieder schön war.
Danach wurde noch das Wohnmobil getauscht, so dass wir die Sommerreise 2019 antreten konnten. Dieses Mal ging es über Dänemark und Schweden bis nach Norwegen. Während dieser Reise feierten wir den mittlerweile 18. Geburtstag des "Jugendlichen". Im August waren wir wieder in Hamburg.
Bis auf kleinere Reisen z.B. zur Mecklenburger Seenplatte oder an die Schlei zum Paddeln, sind unsere Reisezeiten jetzt erstmal vorbei. Wir verbrachten viel Zeit in Hamburg und es wurden einige Praktika zur beruflichen Orientierung absolviert.
Zur Zeit sind wir in Leipzig und hier fängt der mittlerweile fast 20 jährige Teilnehmer seinen ersten festen Job an. Der Start ins Berufsleben wird von mir begleitet werden und zu Reflexions- und Erholungsphasen werden wir weiterhin mit dem Wohnmobil schöne Auszeiten verbringen.
Leipzig im Mai 2021